Über die Bedeutung des autonomen Nervensystems in der Therapie

(oder die Essenz der Polyvagaltheorie)

Ich habe mich oft gefragt, warum es einige Menschen im Leben scheinbar wesentlich leichter haben als andere und warum es offensichtlich so schwer ist, mit alten und vor allem frühen Traumata in einem guten Leben anzukommen. Als wären Menschen, die früh schlimme Erfahrungen machen mussten, einfach nicht in der Lage, endlich mal mit der Vergangenheit abzuschließen und in innere Balance zu finden.

Diese Biographien sind meist von langen leidvollen Phasen und zahlreichen Krisen gekennzeichnet. Auch nach vielen Therapien wird einfach keine konstante seelische und gesamtgesundheitliche Stabilität erreicht.

Mit der Begründung der Polyvagaltheorie des amerikanischen Neurowissenschaftlers und Psychiaters Steven Porges kommen wir diesem Phänomen so viel näher als ich mir selbst das jemals vorstellen konnte.

Er liefert mit seinen Erkenntnissen über das autonome Nervensystem der gesamten Therapielandschaft grundlegend neue Möglichkeiten, Menschen, die mit posttraumatischen Belastungsstörungen und frühen Verletzungen leben, nachhaltig zu helfen und sie zu unterstützen, in ein neues Lebensgefühl, bzw. endlich mal in der Gegenwart ankommen zu können.

Wenn Babies und Kleinkinder in ihren ersten Lebensjahren ihr Umfeld als unsicher oder gar feindlich erleben und in ihren ersten Bezugspersonen keine liebevolle, feinfühlige und präsente Zuwendung erfahren, entwickelt sich deren Nervensystem und Gehirn auf vollkommen andere Weise als bei Kindern, deren Grunderfahrung mit dem Leben sicher und positiv ist.

Die Entwicklung des ventralen Teils des Vagusnervs, dessen gesunde Ausprägung überhaupt erst ein grundsätzliches Gefühl von Sicherheit, Grundvertrauen und Verbundenheit (mit sich selbst und dadurch dann auch mit anderen) im Leben möglich macht, bleibt aus, wenn wir als kleine verletzliche Wesen keine Erfahrung von liebevoller Co- Regulation machen können.

Den Nervenenden dieses Teils unseres autonomen Nervensystems (des sozialen Nervensystems) fehlt die Myelinisierung- eine Schutzschicht, die eine schnelle Reizweiterleitung ermöglicht.

Das ist eine anatomische Realität, die das Leben maßgeblich verändert.

Ebenso bleibt das Nervensystem von Menschen, die ganz früh permanent Stress und Angst erlebten und vielleicht auch reeller Bedrohung ausgesetzt waren, in einem lebenslangen Modus von kontinuierlicher Alarmbereitschaft förmlich hängen.

Dies führt zu einem Leben im Ausnahmezustand.

Was für andere nur in Situationen hoher seelischer Belastung oder nach außergewöhnlich stressenden Ereignissen gefühlt wird, ist für traumatisierte Menschen das konstante Lebensgefühl.

Alles wird zum permanenten Kampf auf unsicherem Terrain und führt somit immer wieder in tiefe Erschöpfung, da auch in der Ruhe keine Erholung und Entspannung stattfindet. Um wirklich loszulassen und uns zu erholen, braucht es ein Gefühl von innerer Sicherheit, das traumatisierten Menschen fehlt.

Auch fühlen sich traumatisierte Menschen meist nicht wirklich mit dieser Welt verbunden, da die Fähigkeit, sich als Teil derer zu erleben, auch nicht entwickelt wurde- weder zwischenmenschlich durch sichere Bindung, noch physisch durch ein resonanzfähiges Nervensystem.

Wer das nicht kennt, kann nicht nachvollziehen, wieviel Verzweiflung und Not in Menschen herrscht, deren Grundstein für ein Leben in relativer Stabilität und Selbstverständlichkeit einfach nicht gelegt wurde.

Und nun die gute Nachricht und was dies für Therapie und Heilung bedeutet:

Grundlegend ist wichtig, dass dieser Teil des Nervensystems (der ventrale Vagusnerv) kontinuierlich (re-)aktiviert wird bei Menschen, die mit Trauma leben und sich schlecht regulieren können.

Oftmals liegen als Regulierungsversuche bei zu viel innerer Anspannung viele stoffgebundene Süchte vor; Alkohol, Drogen, Nikotin, aber auch Selbstverletzung und Essstörungen, besonders häufig Bulimie.

Ebenso ist es für Betroffene schwierig, mit sich alleine zu sein.

Zurückgeworfen auf sich selbst, wird die ganze grundlegende Unsicherheit spürbar und die Not mündet meist in der permanenten Suche nach einem Gegenüber, das eigentlich in den frühen Jahren gefehlt hat.

Schlimm ist dabei, dass viele nicht verstehen, warum sie aus diesen alten Strukturen nicht rauskommen und sich in ihrer Not nicht anders zu helfen wissen.

Glücklicherweise gibt es mittlerweile viele Übungen, die speziell dafür entwickelt wurden, das Nervensystem zu beruhigen, den Vagusnerv zu stärken und langsam zurück in ein Lebensgefühl von mehr Stabilität und Entspannung zu gelangen.

Der Körper muss also integriert werden in den Prozess.

(Ich biete hier viele Übungen an in meiner Arbeit, die meine Klient*innen auch einfach zu Hause für sich sich selbst praktizieren können.)

Für therapeutischen Erfolg ist eine stabile Beziehung zwischen Therapeut*in und Klient*in unabdingbar und ein gefühlter Raum von Sicherheit.

Auch bei Menschen mit weniger drastischem Background entstehen nur Heilungsschritte, wenn das zuvor beschriebene neuronale Sicherheitssystem aktiviert ist.

Was der Vagusnerv mag- zumindest meiner ;):
Ausgewogene Zeitgestaltung, förderliche Yogaübungen,
Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe.
Pausen.
Die Natur, den Wald und Spaziergänge am Wasser.
Musik.
Gute Gespräche mit kontaktfähigen Menschen.
Stabile Beziehungen.
Selbstfürsorge.

Ein bisschen kann man es auch einfach aus dem ableiten, was früher fehlte:
Sichere Beziehungen.
Feinfühlige Mitmenschen.
Achtsamkeit.
Achtsame Berührungen, die Sicherheit stärken und Grenzen respektieren.
Gesunde Grenzen.
Ein neues Körpergefühl und den Körper endlich verstehen.
Die Brücke zwischen Körper und Seele finden.
Zu lernen, ja und nein zu sagen, wo und wann wir es wollen.
Und auf diese Weise und mit diesen Erkenntnissen können neue Qualitäten im Leben entstehen.